[Die Liberalen bestehen darauf, dass Kinder das Recht haben sollten, Teil ihrer jeweiligen Gemeinschaft zu bleiben, allerdings unter der Bedingung, dass ihnen eine Wahlmöglichkeit eingeräumt wird. Damit aber, sagen wir, amische Kinder wirklich die freie Wahl haben, für welche Lebensform sie sich entscheiden, entweder für das Leben ihrer Eltern oder für das der "Engländer", müssten sie angemessen über alle Optionen informiert und darin unterrichtet werden, und der einzige Weg, dies zu tun, wäre, sie aus ihrer Einbettung in die amische Gemeinschaft herauszulösen, mit anderen Worten, sie effektiv "englisch" zu machen. Dies zeigt auch deutlich die Grenzen der üblichen liberalen Haltung gegenüber muslimischen Frauen, die einen Schleier tragen: Es wird als akzeptabel angesehen, wenn es ihre freie Entscheidung ist und nicht eine Option, die ihnen von ihren Ehemännern oder ihrer Familie aufgezwungen wird. In dem Moment jedoch, in dem eine Frau den Schleier aufgrund ihrer freien individuellen Entscheidung trägt, ändert sich die Bedeutung ihres Handelns völlig: Es ist nicht mehr ein Zeichen ihrer unmittelbaren substanziellen Zugehörigkeit zur muslimischen Gemeinschaft, sondern Ausdruck ihrer eigenwilligen Individualität, ihrer spirituellen Suche und ihres Protests gegen die Vulgarität der Kommerzialisierung der Sexualität oder aber eine politische Geste des Protests gegen den Westen. Eine Wahl ist immer eine Meta-Wahl, eine Wahl der Modalität der Wahl selbst: Es ist eine Sache, einen Schleier zu tragen, weil man unmittelbar in eine Tradition eingebunden ist; es ist eine ganz andere, sich zu weigern, einen Schleier zu tragen; und eine ganz andere, ihn nicht aus einem Gefühl der Zugehörigkeit heraus zu tragen, sondern als ethisch-politische Wahl. Deshalb befinden sich in unseren säkularen Gesellschaften, die auf "Wahlfreiheit" beruhen, Menschen, die eine substanzielle religiöse Zugehörigkeit pflegen, in einer untergeordneten Position: Selbst wenn es ihnen erlaubt ist, ihren Glauben zu praktizieren, wird dieser Glaube als ihre idiosynkratische persönliche Wahl oder Meinung "toleriert"; in dem Moment, in dem sie ihn öffentlich als das darstellen, was er für sie wirklich ist, werden sie des "Fundamentalismus" bezichtigt. Das bedeutet, dass das "Subjekt der freien Wahl" (im westlichen, "toleranten", multikulturellen Sinne) nur als Ergebnis eines äußerst gewaltsamen Prozesses des Herausgerissenwerdens aus der eigenen Lebenswelt, des Abschneidens von den eigenen Wurzeln entstehen kann.

Author: Slavoj Žižek

[Die Liberalen bestehen darauf, dass Kinder das Recht haben sollten, Teil ihrer jeweiligen Gemeinschaft zu bleiben, allerdings unter der Bedingung, dass ihnen eine Wahlmöglichkeit eingeräumt wird. Damit aber, sagen wir, amische Kinder wirklich die freie Wahl haben, für welche Lebensform sie sich entscheiden, entweder für das Leben ihrer Eltern oder für das der "Engländer", müssten sie angemessen über alle Optionen informiert und darin unterrichtet werden, und der einzige Weg, dies zu tun, wäre, sie aus ihrer Einbettung in die amische Gemeinschaft herauszulösen, mit anderen Worten, sie effektiv "englisch" zu machen. Dies zeigt auch deutlich die Grenzen der üblichen liberalen Haltung gegenüber muslimischen Frauen, die einen Schleier tragen: Es wird als akzeptabel angesehen, wenn es ihre freie Entscheidung ist und nicht eine Option, die ihnen von ihren Ehemännern oder ihrer Familie aufgezwungen wird. In dem Moment jedoch, in dem eine Frau den Schleier aufgrund ihrer freien individuellen Entscheidung trägt, ändert sich die Bedeutung ihres Handelns völlig: Es ist nicht mehr ein Zeichen ihrer unmittelbaren substanziellen Zugehörigkeit zur muslimischen Gemeinschaft, sondern Ausdruck ihrer eigenwilligen Individualität, ihrer spirituellen Suche und ihres Protests gegen die Vulgarität der Kommerzialisierung der Sexualität oder aber eine politische Geste des Protests gegen den Westen. Eine Wahl ist immer eine Meta-Wahl, eine Wahl der Modalität der Wahl selbst: Es ist eine Sache, einen Schleier zu tragen, weil man unmittelbar in eine Tradition eingebunden ist; es ist eine ganz andere, sich zu weigern, einen Schleier zu tragen; und eine ganz andere, ihn nicht aus einem Gefühl der Zugehörigkeit heraus zu tragen, sondern als ethisch-politische Wahl. Deshalb befinden sich in unseren säkularen Gesellschaften, die auf "Wahlfreiheit" beruhen, Menschen, die eine substanzielle religiöse Zugehörigkeit pflegen, in einer untergeordneten Position: Selbst wenn es ihnen erlaubt ist, ihren Glauben zu praktizieren, wird dieser Glaube als ihre idiosynkratische persönliche Wahl oder Meinung "toleriert"; in dem Moment, in dem sie ihn öffentlich als das darstellen, was er für sie wirklich ist, werden sie des "Fundamentalismus" bezichtigt. Das bedeutet, dass das "Subjekt der freien Wahl" (im westlichen, "toleranten", multikulturellen Sinne) nur als Ergebnis eines äußerst gewaltsamen Prozesses des Herausgerissenwerdens aus der eigenen Lebenswelt, des Abschneidens von den eigenen Wurzeln entstehen kann. - Slavoj Žižek<

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